Verfall der werte

Nun also doch. Christian Wulff ist zurückgetreten, nachdem seine Imunität aufgehoben werden sollte. Doch weder die Krokodilstränen der einen Seite noch die Hähme der anderen Seite sind angebracht. Der Schritt war notwendig geworden, um den Schaden zu begrenzen. Nun heisst es daraus lernen und nach vorne schauen.

Viel interessanter als die ständigen Diskussionen um Wulff finde ich die Kommentare einiger Leute, die offensichtlich Anhänger der Unions-Parteien sind. Wulff habe juristisch nichts falsch gemacht, und die moralische Messlatte habe eben zu hoch gelegen. Künftig solle man andere, realistische Maßstäbe anlegen. Was für ein Wandel in einer Partei bzw. bei deren Sympathisanten, die den Verfall der Werte beklagt und die einmal angetreten war, die "geistig-moralische Wende" herbeizuführen. Habe ich da etwas falsch verstanden? Waren mit den Werten nur materielle Werte gemeint, mit der moralischen Erneuerung eine Verschiebung zu einer Moral des Egoismus und der Vorteilsnahme? Moral (Ethik, Sitte) ist nichts Absolutes, sie ist in jeder Kultur anders und sie kann sich verändern. Sie bezeichnet allgemein anerkannte Verhaltensweisen, Regeln und ungeschriebene Gesetze einer Gemeinschaft oder Kultur. Der Begriff sagt nichts darüber aus, wie diese Regeln lauten. Wenn es allgemein anerkannt wird, dass jeder nur auf seinen Vorteil schielt, dann ist das auch eine Form von Moral.
Nun wollen einige anscheinend jede Form von Moral abschaffen, weil sie ihnen unangenehm ist. Sie sollten nicht vergessen, dass Moral der Kitt ist, der eine Gesellschaft zusammen hält und ein Zusammenleben größerer Gruppen möglich macht. Ohne Moral wird unsere Gesellschaft allmählich zerfallen und das kann niemand ernsthaft wollen.

Befremdlich ist auch die Art und Weise, wie die Bundesregierung wieder versucht hat, einen ihr gewogenen Kandidaten als Wulff-Nachfolger zu bestimmen. Dabei standen wohl parteipolitische Interessen im Vordergrund. Nur widerwillig, aber doch gewohnt pragmatisch, hat Angela Merkel schließlich Joachim Gauck akzeptiert. Es wäre eine gute Gelegenheit gewesen, das Qahlverfahren grundlegend zu ändern. Warum sollen nicht die Bürger des Landes über ihren Präsidenten abstimmen? Wer dem Volk zutraut, bei einer Bundestagswahl die richtige Entscheidung zu treffen, der darf ihm auch zutrauen, einen Bundespräsidenten wählen zu können. Es wäre die Chance, einen überparteilichen und von einer breiten Basis getragenen Bundespräsidenten zu bekommen. Mehr Mitsprache bei wichtigen Entscheidungen führt auch zu mehr Identifikation und dürfte die sich ausweitende Politikverdrossenheit wieder verringern. Dann müssten wir uns auch weniger Sorgen wegen des Verfalls der Werte machen.