In diesen Tagen ist sie in aller Munde und muss als Ursache für alle mögliche herhalten: die Gier. Sie hat uns die verschiedenen Krisen eingebracht, so sagt man. Gierige Banker, Spekulanten, Fondsmanager oder Vorstände sind an allem schuld. Ohne die menschliche Gier ginge es uns sehr viel besser.

Ist es wirklich so einfach? Gier ist die verkürzte Form von Begierde, Begehren. Sie ist der starke, auch übersteigerte Drang nach etwas, das jemandem viel wert ist.
Wir verbinden den Ausdruck Gier meistens mit negativen Dingen wie Habgier, Geldgier, Machtgier. Gier ist sicher schädlich, wenn sie alles andere dominiert oder wenn sie sich in einer Rücksichtslosigkeit gegenüber anderen äußert. In etwas abgeschwächter Form ist sie jedoch natürlich und steckt in jedem von uns, mehr oder weniger ausgeprägt. Gier als Streben nach etwas, nach Erfolg im Beruf, gesellschaftlicher Anerkennung, guten Noten. Jeder Spieler hat etwas Gier in sich, er will selbstverständlich sein Spiel gewinnen. Und es gibt auch eine positive Gier, z. B. die Neugier (die Neugier, die die Grundlage für den Treppenhaus-Klatsch bildet, lassen wir einmal außen vor...). Neugier, der Wunsch, Neues zu entdecken und Unbekanntes zu erforschen, hat uns vielerlei Fortschritte eingebracht.

Schon unsere frühen Vorfahren besaßen eine gewisse Gier, die Gier nach mehr und besserer Nahrung, nach besseren Lebensumständen. Sie hat ihnen nicht nur das Überleben gesichert, sondern auch zu besseren Lebensbedingungen geführt. Sie ist also bis zu einer gewissen Grenze eine natürliche Eigenschaft, ein Antrieb unseres Lebens, der dazu geführt hat, das unsere Vorfahren sesshaft wurden, die Landwirtschaft entdeckten und Häuser bauten. Man kann Gier auch als eine Form von Sucht betrachten. Der Sänger Peter Maffay hat sich dem positiven Teil dieser Sucht in einem Lied angenommen. Es heisst "Diese Sucht, die Leben heisst" und beginnt mit den Zeilen "Ohne sie wär' Rom nie gebaut, Andromeda nicht entdeckt..."
Eine gewisse Sucht, eine gewisse Gier, hat zu ständigem Fortschritt geführt, den wir heute wohl kaum noch missen möchten. Selbst die Profitgier Einzelner hat als Nebeneffekt zu mehr Wohlstand für viele geführt. Das Streben nach mehr Gewinn führte zu verbesserten Produktionsmethoden und höherer Produktivität, die es letztlich Vielen ermöglichten, sich immer mehr Dinge zu leisten und ein angenehmeres Lebens zu führen, und zu einer größeren Vielfalt an Produkten.

Die Gier darf keine Gelegenheit bekommen, so mächtig zu werden, dass sie ganze Bevölkerungsgruppen oder Staaten in den Abgrund reißen kann. Darauf müssen wir achten. Wenn das sichergestellt ist, dann ist ein bisschen Gier durchaus gut für uns. Sie treibt uns an. Ohne sie wären wir nur einfache Organismen ohne Ziele, unterwegs als Jäger und Sammler mit dem einzigen Verlangen, den Hunger zu stillen.