Früher war alles besser - oder?

"Früher war alles besser", sagen vor allem die älteren Leute. Nur für sie gibt es auch ein Früher, den Jüngeren fehlt es noch. Früher ist, als man selbst noch jung war. Früher war sicher vieles anders, aber war auch alles besser? Wenn das so wäre, dann müsste sich seit Generationen vieles ständig verschlechtert haben. Dabei haben doch Generationen von Eltern oft gesagt "unsere Kinder sollen es einmal besser haben." Haben sie also versagt oder ist heute doch einiges besser als damals?
Denken wir einmal zurück an unsere Vergangenheit, für mich heisst das ungefähr 40 Jahre. In vielen Haushalten gab es noch kein Auto, keinen Fernseher, manchmal nicht einmal eine Waschmaschine oder ein Telefon. Geschirrspüler waren Science-Fiction, von Computern ganz zu schweigen. Die 48-Stunden-Woche war normal, Urlaub gab es kaum und den verbrachte man zu Hause. Nur in wenigen Fällen konnte man mal verreisen, das war im Umkreis von 300 km um den Wohnort. Reisen in ferne Länder waren ein Traum. Vieles von dem, was wir uns damals kaum vorstellen konnten, ist heute selbstverständlich und wir wollen es nicht mehr missen. Krankheiten, die früher oft tödlich verliefen, sind heute heilbar. Ist vielleicht doch etwas besser geworden?

Früher war alles viel billiger, sagen die Älteren oft. Sie übersehen dabei, dass auch die Einkommen sehr viel niedriger waren als heute. Rechnet man einmal nach, wieviel Arbeitszeit damals und heute notwendig war/ist, um ein bestimmtes Produkt kaufen zu können, dann stellt sich heraus, dass dank des Fortschritts vieles heute billiger ist und wir uns deutlich mehr leisten können.
Sicher war früher einiges tatsächlich besser, was zum Teil an uns selber liegt. Eine Tomate schmeckte einfach nach Tomate und eine Gurke nach Gurke.

"Früher war alles besser, sogar die Zukunft" sagte Karl Valentin einmal ironisch. Mit seinem Nachsatz könnte er recht behalten. Für die heutige jüngere Generation sieht die Zukunft tatsächlich nicht mehr so rosig aus. Die können vielleicht eines Tages mit gutem Grund sagen, dass früher alles besser gewesen sei.

Warum sind wir so oft der Ansicht, dass in unserer Jugendzeit vieles besser war, trotz allen Fortschritts? Es gibt mehrere Gründe. Zunächst einmal spielt uns unser Gedächtnis einen Streich. Es hat nämlich die Eigenart, negative Ereignisse recht bald wieder zu löschen und vor allem die positiven Dinge zu behalten. Das ist durchaus nützlich und sinnvoll, denn es hilft uns, einen gewissen Lebensmutund Optimismus zu erhalten. Die Folge davon ist aber, dass uns unsere Vergangenheit etwas verklärt erscheint. Das ist wie mit dem Urlaub, von dem man sich nach einiger Zeit nur noch an die schöne Landschaft und das gute Essen erinnert, während der Buchungsfehler und die Regentage bald vergessen sind.
Ein weiterer Grund ist, dass wir als Jugendliche und vor allem als Kinder naturgemäß weit weniger echte Sorgen hatten als später als Erwachsene. Der "Ernst des Lebens" hatte uns noch nicht erreicht. Das Leben war einfacher, andere kümmerten sich um die wesentlichen Dinge. Heute müssen wir selber für uns sorgen. Natürlich hatten wir auch unsere Sorgen, aber verglichen mit denen, die wir heute haben, erscheinen sie uns in der Erinnerung banal.
Die Arbeit war früher oft anstrengender. Es gab weniger ausgefeilte Hilfsmittel als heute. Aber vielleicht war sie trotzdem befriedigender, weil man eher das Gefühl hatte, etwas geschafft zu haben. Heute sind viele Beschäftigte auf Effizienz getrimmte Kostenfaktoren. Die heutige Zeit ist hektischer als die damalige, obwohl wir weniger arbeiten und mehr Freizeit haben. Wir befinden uns in dem Dilemma, dass wir uns manchmal nach der etwas beschaulicheren Zeit zurücksehnen, aber gleichzeitig nicht auf den modernen Komfort verzichten wollen.
Vielleicht konnten wir uns früher auch leichter über etwas freuen und wussten so manches mehr zu schätzen als heute. Auf einen Urlaub, einen Fernseher oder ein gutes Kleidungsstück musste man lange sparen. Umso größer war dann die Freude über die Neuerwerbung, wenn man sie sich endlich leisten konnte. Der Urlaub wurde viel mehr genossen, weil man dafür vorher auf anderes verzichten musste. Die Wertschätzung für viele Dinge war eine ganz andere als in der heutigen, auf schnellen, flüchtigen Konsum orientierten Gesellschaft.
Nein, früher war manches besser, aber doch nicht alles.