So langsam wird die Katze aus dem Sack gelassen: In bewährter Salami-Taktik erfahren wir nach und nach immer mehr Details über das geplante Freihandelsabkommen TTIP, das EU und USA wirtschaftlichen Aufschwung bringen soll. Die Gegner dieses Abkommens befürchten unter anderem, dass in Deutschland und der EU geltende Standards für Arbeitsrecht, Verbraucherschutz oder Produktqualität aufgeweicht werden könnten. Diesen Befürchtungen hat Agrarminister Christian Schmidt von der CSU neue Nahrung gegeben. "Wir können nicht jede Wurst und jeden Käse schützen", sagte er in einem Kommentar. Das heißt: Erzeugnisse mit bei uns geschützter Herkunftsbezeichnung können kümftig auch unter gleicher Bezeichnung aus den USA kommen. Schwarzwälder Schinken, der bisher im Schwarzwald hergestellt bzw. verarbeitet werden muss, darf mit TTIP auch aus Texas stammen. Wenn sich ein Fürther Metzger erdreistet, eine Nürnberger Bratwurst anzubieten, ist ihm eine Menge Ärger sicher. Wenn zukünftig ein Wurstkonzern aus New York oder Denver Nürnberger Bratwürste in Europa anbieten wollte, könnte man ihn nicht daran hindern. Würde man ihn daran hindern, dann könnte er das jeweilige Land auf entgangene Gewinne verklagen - wohlgemerkt, erwartete entgangene Gewinne, also auch Phantasiegewinne.

Die Befürworter sagen, durch TTIP würden in der EU und in den USA insgesamt etwa 2 Millionen neue Arbeitsplätze entstehen, Studien von eher dem wirtschaftsfreundlichen Lagern zuzurechnenden Institutionen prophezeihen dazu ein zusätzliches Wirtschaftswachstum von 0,5% pro Jahr. Kanzlerin Angela Merkel hat sich schon 2013 begeistert über das Abkommen geäußert und damit einmal mehr gezeigt, wie herzlich egal ihr die Meinung der Deutschen in Wirklichkeit ist.
Kritischere Studien gehen davon aus, dass es kaum zusätzliche Arbeitsplätze geben wird und das sich das Wachstum von 0,5% auf zehn Jahre verteilt, also nur 0,05% pro Jahr. 0,5% liegen innerhalb des Rahmens, in dem sich Wirtschaftsweise und regierung regelmäßig bei ihren Wachstunsprognosen irren, 0,05% sind statitisch nicht relevant. Eine amerikanische Studie kommt sogar zu dem schluss, dass es kein Wachstum geben wird und das Arbeitsplätze verloren gehen werden. Das wird durch die Erfahrungen unterstützt, die Kanada und Mexiko mit ihren Freihandelsabkommen mit den USA machen durften.

Wenn TTIP so wichtig und vorteilhaft für uns ist, warum ist dann alles, was da verhandelt wird, streng geheim? Warum dringt kaum etwas an die Offentlichkeit? Offenbar gibt es doch einige bittere Pillen, die wir schlucken sollen, ohne es zu wissen.

Wodurch sollte es für beide Seiten Vorteile geben? Auf beiden Seiten des Atlantiks gibt es so gut wie nichts, das nicht auch auf der anderen Seite zu haben wäre. Echtes Wachstum kann nur entstehen, wenn eine Lücke geschlossen, ein Bedarf erfüllt wird. Das ist nicht der Fall. Es gibt kaum etwas, dass wir oder die Amerikaner entbehren, weil der Import nicht erlaubt ist oder die Zölle zu hoch sind. Wir werden nur Produkte aus Überproduktion gegen andere Produkte aus Überproduktion tauschen. Wenn die Amerikaner mehr europäisches Geflügel essen, wird in den USA die Nachfrage nach amerikanischem Geflügel zurückgehen und umgekehrt. Wenn in einer Branche die Exporte steigen, können neue Arbeitsplätze entstehen. Doch wenn dafür in einer anderen Branche die Importe anziehen, werden dafür entsprechend einheimische Arbeitsplätze wegfallen. Unter dem Strich wird es also ein Nullsummenspiel. Deshalb ist auch die Prognose von 0,5% zusätzlichem jährlichem  Wirtschaftswachstum eher Wunschdenken. In Mexiko sind neue Arbeitsplätze entstanden - im Niedriglohn-Sektor. Dafür sind in den USA Arbeitsplätze verschwunden. Profitiert haben nicht die breiten Massen, sondern Unternehmen, die ihre Lohnkosten optimieren konnten.

Wem nützt TTIp also? Hauptsächlich den großen Konzernen, und da vor allem den amerikanischen. Kleine und mittlere Unternehmen, die den Großteil der Arbeitsplätze stellen, werden kaum davon profitieren. Für sie entstehen kaum neue Absatzmärkte, siekönnen allenfalls ein wenig vom Bürokratie-Abbau profitieren. Gleiche, einheitliche Standards auf beiden seiten vereinfacht Zulassungs- und Anerkennungsverfahren.
Daher ist auch die Prognose von den vielen neuen Arbeitsplätzen nicht wirklich ernst zu nehmen. Die relativ hohen EU-Standards werden aufgeweicht, und die Amerikaner kommen uns vielleicht auch etwas entgegen. Man wird als Kompromiss das hüben oder drüben geltende Minimum ansetzen, in der Mathematik nennt man das den kleinsten gemeinsamen Nenner. Da die Kennzeichnungspflicht ebenfalls auf ein Minimum reduziert wird, dürfen wir uns schon mal auf Kunsthonig und gentechnisch veränderte Lebensmittelfreuen. Die sollen nach dem Willen der EU zwar gekennzeichnet werden, aber, so ein Vorschlag der amerikanischen Seite, nur versteckt im Barcode. Viel Spaß beim Scannen! Wahrscheinlich werden sich nicht die verbraucherfreundlichen Standards durchsetzen, sondern die, die der Wirtschaft am meisten nützen, nämlich die jeweils niedrigsten.

Wenn überhaupt, werden die Amerikaner von TTIP profitieren. Sie haben nämlich ein Problem: Der Dollar ist gegenüber anderen Währungen zu stark und die eigenen Exporte schwächeln. Die Chinesen wird man kaum beeindrucken können, also versucht man, den Bündnispartner EU zu bedrängen. Die EU soll als Abnehmer der US-amerikanischen Wirtschaft zum Aufschwung verhelfen.

Jean-Claude Juncker, einer der Befürworter des Freihandelsabkommens und als früherer wirtschaftsfreundlicher Finanzminister in Luxemburg bekannt, sagte einmal u. a.: "Das Freihandelsabkommen wird einen Wandel in der Demokratie bewirken."  Das könnte tatsächlich ein Ergebnis sein. TTIP wird derzeit vorbei an allen Parlamenten, an der Politik und vor allem an den Europäern, von denen ein Großteil gegen das Abkommen ist, verhandelt. Wenn es in dieser Weise umgesetzt wird, dann gibt es tatsächlich einen Wandel. Dann wird unsere Demokratie in eine Ekonokratie verwandelt, in der die Wirtschaft herrscht und alles dem vermeintlichen Wachstum und dem Profit untergeordnet wird. Wenn Staaten Gesetze ändern oder Anforderungen erhöhen, können Konzerne, die dadurch betroffen sind, nicht nur Schadenersatz für getätigte Investitionen verlangen, sondern den jeweiligen Staat auch auf Entschädigung für entgangene Gewinne verklagen. Dabei können sie auch unrealistische Annahmen machen. Entschieden werden soll das von einem privaten, nichtöffentlichen Schiedsgericht. Auf diese Weise können Unternehmen Staaten erpressen, die Gesetzgebung in ihrem Sinne beeinflussen und somit die Politik entmachten. Das ist ein Angriff auf die Demokratie, weil nicht mehr das Volk der Souverän ist, sondern ein Konzern mit seinen Anwälten.

Was uns durch TTIP noch drohen kann: Förderungen aus Steuergeldern für öffentliche Einrichtungen wie Museen, Theater, Schwimmbäder, Bildungseinrichtungen oder auch die Wasserversorgung, könnten als unzulässige Subventionen betrachtet werden und Unternehmen, die ähnliches anbieten, könnten dagegen klagen oder ebenfalls Unterstützungen einfordern. Das hieße, dass auch solche Einrichtungen einer Wirtschaftlichkeitsbetrachtung unterzogen werden müssten und alles, was keinen Profit macht, müsste geschlossen werden. Mancher mag jetzt sagen, das ist mir egal, ich gehe eh nie ins Museum oder in die Oper. Doch damit würden einige Konzerne finanziell reicher, aber unsere Gesellschaft kulturell ärmer werden.

BDI-Präsident Grillo äußerte kürzlich, es sei dumm, sich TTIP zu verweigern. Europa bräuchte die engere Verbindung mit den USA, um gegen den wachsenden asiatischen Markt bestehen zu können. Sonst werde Europa wirtschaftlich abgehängt und unser aller Wohlstand würde leiden. Das weist indirekt auf drei Kernprobleme hin:
1. Wir verdanken unseren Wohlstand zum großen Teil dem Umstand, dass wir bisher so billig in Fernost einkaufen und produzieren konnten. Soll das in Zukunft nicht mehr gelten?
2. Der europäischen Industrie fehlen die zündenden Ideen für neue Produkte. Sind die Märkte gesättigt, kommt das vielbeschworene Wachstum ins Stocken. Doch ob diese neuen Märkte auf der anderen Seite des Atlantiks zu finden sein werden und ob es eine gute Idee ist, sich einer wirtschaftspolitischen Blockbildung anzuschließen, darf beides bezweifelt werden.
3. Für die europäische Industrie wäre eine Angleichung der Arbeitsmärkte interessant. In den USA sind die Regeln wesentlich lockerer, Mitarbeiter können schneller entlassen und gewerkschaftlich organisierte Mitarbeiter dürfen offen benachteiligt werden. Zudem sind in einigen Branchen die Löhne deutlich niedriger als in Europa.

Den Großkonzernen dürfte es aber um noch etwas ganz anderes gehen: Darum, die Bedingungen für den Markt selber festlegen zu können, ohne das die Politik dabei stört. Die Wirtschaft diktiert, was zu tun ist und die Politiker werden zu Marionetten. Juncker hat es angedeutet: TTIP kann einen Wandel in der Demokratie bewirken. TTIP könnte die Demokratie aushebeln. Und das brauchen wir ebenso wenig wie amerikanische Produkte, die wir genauso gut selber herstellen können. Deshalb die Heimlichtuerei. Um Standards anzugleichen, benötigt man kein Freihandelsabkommen, mit dem wir "dem amerikanischen Raubtier-Kapitalismus" die Tür öffnen würden, wie Wirtschaftsprofessor Max Otte treffend feststellt.