Okay, bevor die Experten sich zu Wort melden: Nach der griechischen Mythologie stammte Europa aus Phönizien und wurde von Zeus nach Kreta verschleppt. Das für sie neue Land, heute der ganze Subkontinent, wurde später nach ihr benannt. So gesehen, ist Europa eine Griechin mit Migrationshintergrund. Man sollte nun meinen, das wären gute Voraussetzungen für einen Kontinent, sich verständnisvoll, sozial und weltoffen zu zeigen. Leider ist das Gegenteil der Fall. Die Europäische Union ist dabei, eines ihrer Mitgliedsländer in den Abgrund zu treiben. Noch dazu jenes, das einst der Union ihren Namen gab und die Demokratie erfand.

Was EU, IWF und EZB anrichten, ist darauf ausgerichtet, Banken und Finanzmärkte zu sichern, aber nicht die Menschen in Ländern, die angeblich nicht ausreichend wettbewerbsfähig sind. Merkels und vor allem Schäubles starrköpfiges Festhalten an einem Sparprogramm, das offensichtlich nichts anderes bewirkt als Unschuldige leiden zu lassen, erinnert stark an die Versuche des Reichskanzlers Heinrich Brüning, Deutschland 1930 aus der Rezession zu führen. Seine Idee war es, durch niedrigere Löhne und Staatsausgaben den Export anzukurbeln und damit die Industrie zu einer Wohlstandsquelle zu machen. Dummerweise hatten andere Staaten ähnliche Ideen, es kam zu einem gegebseitigen Unterbieten und zu einer Abwärtsspirale, die in der Weltwirtschaftskrise endete. Brüning war nach kurzer zeit krachend gescheitert, Deutschland am Ende und der Weg frei für radikale Parteien. Der Rest ist Geschichte.

Das bisherige Sparprogramm hat nichts gebracht, im Gegenteil. Die griechische Wirtschaft liegt am Boden, die Staatseinnahmen sind gesunken. Weniger Ausgaben führen mit etwas Verzögerung zu weniger Einnahmen. Wenn man dem Wirtschaftskreislauf Geld entzieht, wird er gebremst, nicht beschleunigt. Der Umkehrschluss ist auch richtig, mehr Ausgaben erhöhen die Einnahmen, nur steigen üblicherweise die Ausgaben schneller als die Einnahmen und damit die Verschuldung. Die Pro-Lopf-Verschuldung der Griechen ist etwas höher als die der Deutschen, doch ihr Durschnittseinkommen ist weniger als halb so hoch, Tendenz sinkend. Wir Deutschen bekommen unsere Schulden trotz florierender Wirtschaft und guter Beschäftigungslage kaum in den Griff. Die schwarze Null ist nur dank der momentan extrem niedrigen Zinsen möglich. Das Griechenland seine Schulden angesichts seiner wirtschaftlichen Lage jemals zurückzahlen kann, ist eine schöne Illusion. Auch Privatisierungen helfen da kaum, weil es sich bei diesem "Verkauf des Tafelsilbers" um Einmaleffekte handelt. Mittelfristig könnten sie die Lage sogar noch verschärfen, wenn das Volk oder der Staat privatisierte Einrichtungen zurückmieten müssen. Das Hauptgeschäft machen dabei die Investoren, die Renditen sehen wollen. Die Austeritätspolitik hat zu einer Rezession geführt, nicht zu einem Aufschwung. Deshalb haben die bisherigen Hilfspakete auch nur den Banken und Fonds genützt, die griechische Staatsanleihen, zum Teil sehr billig, gekauft haben und nun an Zinsen und Kursgewinnen verdienen. Denen kann folglich an einem Schuldenschnitt nicht gelegen sein. Dabei wäre das der einzige sinnvolle Ansatz, Griechenland aus dem Dilemma zu befreien. Griechenland braucht einen Neuanfang, egal wie. "Unser Geld" sehen wir ohnehin nicht wieder. Ist es überhaupt unser Geld? Die deutsche Wirtschaft hat prächtig am Handel mit den europäischen Südländern verdient: seit der Euroeinführung wurden insgesamt rund 450 Milliarden Euro Exportüberschuss erzielt, wie die Deutsche Bank ermittelt hat. Die fehlen dort nun. Merkels Schlussgolgerung dazu ist ganz einfach: diese Länder müssen eben wettbewerbsfähiger werden, dann können auch sie mehr exportieren und es gibt Wohlstand für alle. Leider liegt darin ein schwerer Denkfehler. Es können nie alle Länder Exportüberschüsse erzielen. Wenn an einer Stelle ein Überschuss entsteht, muss es an anderer Stelle ein Defizit geben. Das Gerede von den "gierigen Griechen, die unser Geld wollen" ist damit als plumpe Polemik und die Behauptungen der Euro-Skeptiker, Deutschland würde es ohne den Euro besser gehen, als falsch entlarvt.

"Scheitert der Euro, dann scheitert Europa", betet uns Angela Merkel fast täglich vor. Europa steht tatsächlich kurz vor dem Scheitern. Aber nicht, weil der Euro in Gefahr ist, sondern weil die europäische Idee verraten wird. Die EU ist nur ansatzweise eine wirtschaftliche und erst recht keine politische Union. Sie wird derzeit als eine reine Währungsunion betrieben, in der Geld, Wettbewerbsfähigkeit und Profit über allem stehen. Gut verdeutlicht hat das Continental-Vorstand Elmar Degenhart in seiner Rede auf der Hauptversammlung seines Konzerns im Mai 2013. Darin beklagte er, dass in Europa noch zuviel über Umverteilung und soziale Gerechtigkeit gesprochen würde, aber nicht über Wettbewerbsfähigkeit und Europa müsse vor allem wettbewerbsfähiger werden. Kurz zuvor hatte er übrigens das beste Geschäftsergebnis der Unternehmensgeschichte verkündet. Seine Worte wurden erhört, über soziale Gerechtigkeit spricht heute in der EU kaum noch jemand. Syiza und die Regierung Tsipras sind gewählt worden und angetreten, um das zumindest für Griechenland zu ändern. Sie wurden gewählt, weil es die Vorgänger nicht geschafft hatten, die Lage des Landes zu verbessern. Das passt nicht in den europäischen Plan und deshalb soll diese Regierung, die immerhin demokratisch gewählt wurde, nun aus dem Amt gedrängt werden. Es fällt auf, dass EU, EZB und IWF die vorherigen unfähigen und teilweise korrupten, aber konservativen Regierung jahrelang gewähren ließen, während der neuen sozialistischen Regierung schon nach kurzer Zeit die Pistole auf die Brust gesetzt wird. Es geht wohl auch darum, zu verhindern, dass sich Syriza durchsetzen kann, damit andere neue linke Bewegungen wie z. B. Podemos in Spanien nicht gestärkt werden. Die EU übt nicht nur ein Spardiktat aus, sie versucht auch, politischen Einfluss zu nehmen und das ist zutiefst undemokratisch. So wird sich die Skepsis vieler Bürger gegenüber der EU nicht verringern lassen.

Je länger das Drama um Griechenland andauert, desto deutlicher wird auch, dass der Euro eine Fehlkonstruktion ist. Länder mit einer starken Wirtschaft und solche mit einer schwachen Wirtschaft werden unter einer Währung vereint. Das kann nicht funktionieren. Früher wurden diese Unterschiede durch entsprechende Währungsverhältnisse ausgeglichen, heute geht es, wenn überhaupt, nur durch einen am Ende für alle ruinösen Wettkampf um die niedrigsten Lohnkosten. Um das zu vermeiden, bräuchte es Aufbauprogramme für die schwächeren Länder oder einen Lastenausgleich, wie wir ihn in Deutschland haben. An keinem von beiden besteht Interesse und so werden sich die finanziellen und sozialen Spannungen innerhalb der EU weiter verschärfen.Vor allem Deutschland müsste dabei auf etwas Reichtum verzichten. Es kann nun einmal nicht jeder Exportweltmeister werden, egal, was uns Merkel, Schäuble, Juncker oder Lagarde erzählen. Was ein Aufbauprogramm kosten und wie lange es dauern kann, haben wir bei der deutschen Wiedervereinigung gesehen. Mit Griechenland, ebenso wie Portugal oder Spanien, wäre das nicht anders. Es traut sich aber niemand, das offen auszusprechen. Statt dessen versucht man es mit kindlicher Dickköpfigkeit mit Sparmaßnahmen.

Die Bundeskanzlerin versucht uns weiszumachen, Europa sei heute stärker als vor der Finanzkrise. Das geht völlig an der Realität vorbei. Sie sieht dabei nur den finanziellen Aspekt, und hier geht es vor allem Deutschland recht gut. Von einer politischen Einheit sind sowohl die Eurozone als auch der Rest der EU weiter entfernt als je zuvor. Statt Einigkeit gibt es immer mehr Streitereien, Egoismus und kleinstaatlichen Nationalismus. Europa ist eine Geldunion geworden, von der vor allem einige Banken und Großkonzerne profitieren. Die europäischen Werte, das wird immer klarer, sind vor allem monetäre Werte. Konservtive Politiker hatten einmal vorgeschlagen, dass in einer europäischen Verfassung ein Hinweis enthalten sein sollte, dass die europäische Kultur auf christlichen Werten beruhe. Davon ist nichts geblieben. Den vorwiegend konservativen Regierungen ist es egal, wenn in Griechenland Rentner hungern oder Kranke nicht behandelt werden können. Hauptsache, die Rendite stimmt. Auf die Idee, die überdurchschnittlich hohen Militärausgaben des Landes zu kürzen, ist anscheinend noch keiner gekommen. Davon profitiert wiederum die deutsche Rüstungsindustire. Es geht ja auch um Arbeitsplätze - bei uns.

Natürlich darf man nicht übersehen, dass die Griechen alles andere als unschuldig sind an ihrer Situation. Es ist schwer nachvollziehbar, dass die neue Regierung noch keine echten Anstrengungen unternommen hat, die Korruption einzudämmen, ein funktionierendes Steuersystem aufzubauen oder die gut verdienenden Reedereien zur Kasse zu bitten. Varoufakis und Tsipras fehlt ein guter Plan. Den hat die EU aber auch nicht und deshalb würde sich auch mit einer anderen Regierung nicht viel verbessern. Allerdings lässt sich nicht in wenigen Monaten reparieren, was über Jahrzehnte versäumt wurde. EU und Bundesregierung (Deutschland ist nun einmal die größte Wirtschaftsmacht und größter Nettozahler) hätten ihrerseits nicht so lange wegschauen und untätig bleiben dürfen.

Zum Schluss sei die Frage gestattet, ob es wirklich immer sinnvoll und notwendig ist, den Profit zum Maß aller Dinge zu machen und zu versuchen, alle Länder und alle Menschen auf das selbe Niveau zu bringen. Vielleicht sind ja die Griechen, wie auch einige andere, in der Mehrzahl mit einem beschaulicheren Leben, in dem sich nicht alles um Geld und Wettbewerbsfähigkeit dreht, zufrieden? Heinrich Böll hat sich schon in den 1963er Jahren in seiner "Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral" darüber Gedanken gemacht und ich habe in diesem Beitrag schon einmal darüber geschrieben. Doch diese Vorstellung passt sicher nicht zu dem Modell von Europa, dass Angela Merkel und Wolfgang Schäuble im Kopf haben (falls sie überhaupt eine Vision von Europa haben). Sie erklären ihre Vorstellungen von Werten und Moral für universell und versuchen, sie auf alle zu übertragen. Das ist der falsche Weg, denn jede Kultur ist anders und welche Wertvorstellungen die besseren sind, darüber kann man lange streiten. Europa droht wirklich zu scheitern, nicht nur wegen des nicht funktionierenden Euros, sondern auch, weil es nicht gelingt, unterschiedliche Mentalitäten ohne Zwang und Gleichmacherei unter einem Dach zu vereinen. Dabei macht gerade das eine solche Union erst spannend. Nicht ohne Grund machen viele Deutsche gerne in Griechenland Urlaub. Europa ist eine Griechin. Geben wir ihr eine faire Chance!