Der Abgasskandal bei VW ist in seinen Ausmaßen bislang beispiellos. Beispielhaft, aber nicht im Sinne von vorbildlich, ist dagegen die Reaktion der Konzernzentrale. In Pressemitteilungen ließ sie, ebenso wie einige Manager, verlauten, dass nur einige "wenige kriminelle Ingenieure" für die Betrugsaffaire verantwortlich seien. Das zeugt von einer unglaublichen Naivität oder Arroganz der oberen Führungsebene, oder von beidem. Sie glaubt, sich durch Abwälzen von Verantwortung aus der Affaire ziehen zu können. Das ist eine Beleidigung für jeden seriösen Ingenieur, dessen gesamter Berufsstand diskreditiert wird, während jene, die durch direkte Anweisungen oder ihren Führungsstil dafür verantwortlich sind, ihre Hände in Unschuld waschen wollen.

Eine Software zu entwickeln, die falsche Abgaswerte an der Diagnoseschnittstelle ausgibt, ist noch relativ einfach. Algorithmen zu entwickeln, die erkennen, wenn sich ein Fahrzeug auf einem Rollenprüfstand in einem Norm-Testzyklus befindet, ist wesentlich aufwändiger. Dazu benötigt man Prüfstandszeit, Entwicklungskapazität und Geld. Es dürften mehrere 100000 € zusammenkommen. Das das in einem kostenbewussten Unternehmen wie VW ohne größere Begründungen auf unterer Ebene genehmigt würde, ist unwahrscheinlich. Hinzu kommt, dass es nicht die Software alleine ist, dann könnte man die Sache mit einem Update in der Werkstatt relativ schnell bereinigen. Bei einigen Baureihen müssen auch noch Abgaskomponenten eingebaut oder Einspritzanlagen umgebaut werden. Die wurden weggelassen, weil die Motorentwicklung sonst nicht die Kostenvorgaben hätte erfüllen können. Hier diente die Software der Vertuschung. Um das zu realisieren, müssen mehrere Abteilungen oder Bereiche zusammen arbeiten. Das erfordert eine Koordination auf höherer Ebene.

Es ging hier um mehrere wichtige, strategische Entscheidungen: Kostenziele einhalten, eine Motorengeneration rechtzeitig auf den Markt bringen, den amerikanischen Markt erobern. Solche Entscheidungen werden nicht von ein paar Entwicklern an der Basis getroffen, sondern im Top-Management. Es ist daher kaum vorstellbar, dass man dort nichts gewusst hat, zumal sich ein technisch versierter Vorstand wie Martin Winterkorn selbst für kleinste Details interessierte. Und man muss sich auch einmal fragen: Was wusste der Aufsichtsrat?

Wenn Manager über Vorgänge von solcher Tragweite nicht Bescheid wussten, dann haben sie ihre fürstlichen Gehälter nicht verdient. Wenn sie pauschal, ob in den Skandal verwickelt oder nicht, wie zuletzt der Nordamerika-Chef Michael Korn die Verantwortung auf Mitarbeiter in der Sachbearbeiter-Ebene abzuschieben versuchen, dann ist das erbärmlich und feige, denn dann will offenbar niemand daran gehen, die wahren Ursachen abzustellen.

Volkswagen ist ein Symptom, und kein Einzelfall. Getrickst und getäuscht wird in vielen Bereichen der Industrie. Der Fall VW ist allerdings ein besonders krasser, denn meistens wird mit legalen Tricks gearbeitet. Der Unterschied beim Spritverbrauch zwischen Prospektangaben und Wirklichkeit wird immer größer, weil die Fahrzeuge unter Bedingungen getestet werden dürfen, wie sie auf der Straße nie vorkommen. Waschmaschinen arbeiten mit niedrigeren Temperaturen als angegeben, um den Stromverbrauch zu reduzieren. Schlaue Fernseher erkennen das Norm-Testvideo und drosseln ihre Helligkeit, um Strom zu sparen. Unsere industriefreundliche Bundesregierung ist nicht ganz unschuldig daran, dass Vorschriften nicht verschärft werden. Während vieles davon noch legal sein mag, so ist der Betrug durch VW auch ein Symptom für ein krankes Wirtschaftssystem, in dem alles der Profitmaximierung untergeordnet wird. Auf die Mitarbeiter wird immer mehr Druck ausgeübt, auch unrealistische Ziele zu erreichen. Schriftliche Anweisungen braucht man dazu nicht unbedingt, es gibt andere Möglichkeiten. Daher wird sich der Skandal vermutlich auch nie vollständig aufklären lassen. Warum hat das Compliance-System, dessen sich VW so rühmt, jahrelang völlig versagt? Hatten Mitarbeiter, die etwas wussten, nicht den Mut, sich zu melden? Mussten sie eventuell Sanktionen befürchten? Wollte man an bestimmten Schaltstellen im Konzern nichts wissen? Wurden Hinweise ignoriert und Mitarbeiter auf andere Stellen versetzt?

Die Hemmschwelle, Regeln und Vorschriften zu missachten, ist um so niedriger, je stärker die eigene Karriere und das eigene Gehalt an das Erreichen bestimmter Ziele geknüpft sind. Die Art von Management-Denken "Ich will, dass das Ziel erreicht wird, es ist mir egal, wie ihr das schafft" ist in vielen Konzernen verbreitet. Die Angst um den Job lässt sich gut ausnutzen. Wenn du es nicht machst, macht es ein Anderer. Das an diesen Vermutungen etwas dran sein könnte, wird durch die Tatsache gestützt, dass VW für aussagebereite Mitarbeiter eine Art Kronzeugenschutz einrichten will. Mit einem funktionierenden Compliance-System wäre das nicht nötig.

Tricksereien sind nicht nur eine Folge krimineller Energie, sondern auch ein Folge eines immer härter werdenden internen und externen Wettkampfs. In so manchem Unternehmen nennt man gewisse Führungsebenen daher auch "Haifischbecken". Es ist an der Zeit, diese Unkultur infrage zu stellen anstatt sie als Schlüssel zum Erfolg zu sehen.