8. Vom Flecken zur modernen Stadt

Kurz nach der Jahrhundertwende erkannten weitblickende Kaufleute das Potenzial der werdenden Stadt. Georg Stockmann und der Hamburger Carl Harz erwarben am Zuschlag sowie an der Ahrensböker Straße Land und begannen dort Villen für betuchte Bürger zu bauen. Der auch sozial sehr engagierte Carl Harz errichtete zudem ein Wohn- und Kurheim. Hier sollten sich vor allem Großstädter im Ruhe­stand in der schönen Natur erholen können. Nach dem Krieg wurde beiden eine Straße gewidmet. Die Namen Mahlmannstraße und Mahlmann-Wäldchen gehen auf den Reinfelder Rechtsanwalt Dr. Otto Mahlmann zurück, der ebenfalls um 1900 hier tätig war. Ihm gehörte u. a. das zentrale Gelände des Vor­werks Neuhof, auf dem heute das Hochhaus steht. Er dürfte auch für die rechtlich korrekte Abwicklung der vielfältigen Bauvorhaben verantwortlich gewesen sein.
Den zunehmenden Wohlstand der späteren Karpfenstadt brachten die Reinfelder Bürger durch allerlei Verzierun­gen an ihren Häusern, Villen und Geschäften, vor allem in der Innenstadt, zum Ausdruck. Die Gebäude und Fas­saden wurden mit französischen Balkonen, Säulen, Spitzgiebeln und Türmchen ver­ziert. Einige davon sind bis heute im Zentrum erhalten geblieben.
Lange kämpfte der kleine Ort darum, die Stadtrechte zu erhalten. Eine Voraussetzung hierfür war unter anderem die Eingemeindung der Nachbargemeinden Steinhof und Neuhof. Nachdem zwischen Bürger­meister, Gemeinde­vorsteher und Kreistag alles Notwendige abgesprochen worden war, wurde die Einge­meindung schließlich mit Wir­kung vom 15. Oktober 1925 vom preußischen Innenministerium in Berlin genehmigt. Das neue Reinfeld hatte nun schon fast 2700 Einwohner. Der erste Bürgermeister Reinfelds, Paul Katzschke, wurde zum Bürgermeister der Gesamtgemeinde gewählt. Am 4. November beschloss die Gemeindevertretung schließlich, die Fleckenverfassung von 1890 zu ändern. An die Stelle des Wortes "Flecken" trat nun die Bezeichnung "Stadt". Im Jahr darauf bekam Reinfeld mit Walter Stahmer den ersten hauptamtlichen Bürgermeister.

 

Im November 1928 (Wappenrolle Kreis Stormarn) oder April 1930 (Wappenrolle Schleswig-Holstein) wurde schließlich auch das vom Reinfelder Lithografen Josef Schreiber entworfene Stadtwappen aReinfeld-Flaggemtlich genehmigt (siehe Titel der Chronik). Es zeigt in der unteren Hälfte auf blauem Grund (für die Teiche) einen Karpfen, der damit endgültig zum Wappentier Reinfelds wurde. In der oberen Hälfte sehen wir auf rotem Grund in der Mitte einen goldenen Abtstab, der an das  Kloster Reynevelde erinnert, auf dessen Gründung die Geschichte Reinfelds beruht. Links und rechts   daneben symbolisieren zwei Ähren die ehemaligen Vorwerke Steinhof und Neuhof, die einst das  Kloster versorgten. Seit 1974 hat Reinfeld auch eine eigene Flagge.
 

Dank der herrlichen Lage inmitten von Wäldern und Seen entwickelte sich die junge Stadt bald zu einem beliebten Ausflugsziel und Naherholungsort. Ein Prospekt aus dem Jahr 1936 trägt die Überschrift "Reinfeld, die Perle des Kreises Stormarn". Und die Stadt tat viel, um diesem Anspruch weiterhin ge­recht zu werden. Der zweite Welt­krieg ging an Reinfeld weitgehend vorbei, sieht man einmal von den politischen und wirtschaftlichen Wirren ab. Die Stadt blieb von Bomben verschont Allerdings trieb auch hier die allgemeine Not die Menschen in die Arme der NSDAP, die bald die Stadtverwaltung kontrol­lierte. Die alte Hauptstraße wurde in "Adolf-Hitler-Straße" umge­tauft. Einige couragierte Reinfelder Bürger, darunter Carl Harz und Paul von Schoenaich, hatten vergeblich ver­sucht, mit allerlei Veröffentli­chungen gegen die NS-Herrschaft und den Krieg Stimmung zu machen. Harz, der gegen jede Form von Extremismus eintrat, wurde für seine soziale und menschenfreundliche Einstellung inhaftiert. 1943 starb er im Lübecker Gefängnis Lauerhof.
Paul von Schoenaich, am 16. 2. 1866 als Paul Eugen Freiherr von Hoverbeck im westpreußischen Klein Tromnau geboren, diente im ersten Weltkrieg noch als Offizier der preußischen Armee in Frankreich und in Polen. Nach seiner Dienstzeit wurde er zum überzeugten Pazifisten. Er, der die Grauen des Krieges kennengelernt hatte, wandte sich nun gegen den Krieg und sprach sich für eine Aussöhnung mit Russ­land aus. Nach seinem erzwunge­nen Abschied aus der Reichswehr im Range eines Generalmajors zog er 1919 nach Rein­feld. Hier blieb er keineswegs untätig, son­dern wandte sich mit Büchern, Zeitungsarti­keln und Vorträgen an die Öffentlichkeit. 1925 gehörte er gemeinsam mit Bertrand Russell und Albert Einstein zu den Unter­zeichnern des "Manifests gegen die Wehr­pflicht". Er schloss sich der Deutschen Frie­densgesellschaft DFG an, deren Präsident er von 1929-33 sowie 1946-51 war. Schon früh erkannte er die Schwächen der Weimarer Republik und warnte eindringlich vor den Gefahren des aufkommenden Extremismus, insbesondere des Nationalsozialismus.

Gedenkstein Schoenaich

 1933 wurde die DFG verboten und von Schoenaich wegen seiner Mitglieds­chaft verhaftet. Nach einem Hunger­streik in seinem Reinfelder Ker­ker ver­brachte er 10 Wochen im Gefäng­nis in Ham­burg-Altona, bis er unter strengen Auflagen freigelassen wurde. Während der Kriegsjahre führte er ein geheimes Tagebuch, das er 1947 veröf­fentlichte. In der noch jungen Bundesre­publik kämpfte Paul von Schoenaich gegen die Wiederbewaffnung Deutsch­lands und setzte sich vehement für eine Volksbe­fragung dazu ein. Sein unermüd­licher Einsatz für Frieden und Abrüs­tung brachte ihm schließlich den Beina­men "Friedensgeneral" ein.

Am 7. Januar 1954 starb er im Alter von fast 88 Jahren. Neben der Paul-von-Schoenaich-Straße erinnert seit weni­gen Jahren auch ein Gedenkstein an den mutigen Kriegsgegner.
 
 

Während der Kriegszeit litt vor allem der Schulbetrieb. Gegen Kriegsende diente die Schule wie auch das Kurheim und
andere Gebäude als Lazarett und später als Unterkunft für ehemalige Gefangene und Flüchtlinge. Am stärks­ten beeinflusst wurde Reinfeld durch die große Zahl von Flüchtlingen, die gegen Ende des Krieges und in den ersten Jahren danach aus Ostpreußen und Pommern in die nicht russisch besetzten Zonen strömten. Die Einwohnerzahl verdoppelte sich in kurzer Zeit von knapp 3000 auf gut 6000. Auch die Kirche musste Opfer bringen. 1943 mussten die erst 1925 angeschafften Glocken für Kriegszwecke zur Verfügung gestellt werden. 1945 marschierten britische Truppen in die Karpfenstadt ein. Der 1933 von den Nationalsozialisten pensionierte Lübecker Senator Eckholt wurde zum Bürgermeis­ter bestimmt, der Friseur und Gastwirt H. W. Schmidt wurde Bürgervorsteher. Unter der Leitung eines englischen Bildungsoffiziers wurde noch im selben Jahr der Schulbetrieb wieder aufgenommen. Da die Schule angesichts der stark steigenden Schülerzahlen bald viel zu klein wurde, wurde 1949 beschlossen, ein neues Gebäude zu errichten. In mehreren Abschnitten entstand bis 1972 die Matthias-Claudius-Schule. Nur vier Jahre später begannen die Arbeiten für die Joachim-Mähl- (Immanue-Kant-) Schule.

Die Nachkriegszeit brachte für die Karpfenstadt große Veränderungen. Viele Flüchtlinge aus dem Osten blieben in der Stadt. Natürlich benötigten sie auch Wohnraum und so entstanden neue Siedlungen, deren Namen an die "alte Heimat" erinnern, wie z.B. Heimstättenstraße, Ostlandring, Pommernweg. Die Siedlung zwischen der Bahn und der B75 erinnert mit den Straßen Körliner Straße, Schauberg, Karlsberg, Kolberger Straße an die Patenstadt Körlin.

Das Wirtschaftswunder der 50er Jahre brachte der Region wirtschaftlichen Aufschwung und trug we­sentlich mit dazu bei, dass sich die Flüchtlinge schnell integrierten und Arbeit fanden. Die 1944 wie­der aufgebaute Claudius-Mühle war eine der modernsten ihrer Art in Norddeutschland. Die 1952 gebaute Genossenschaftsmeierei an der B75 (heute Duräumat) lieferte auch nach Hamburg und Berlin. Einen weiteren festen Platz im Wirtschaftsleben sicherten sich die "Küchenmöbelfabrikanten Eriksen und Sohn", die hier die bekannten Lundia-Regale herstellten, sowie das Sägewerk Wilhelm Bohm, das Rein­feld selbst im Ausland bekannt machte. Seit 1951 wurden in Reinfeld Damenstrümpfe hergestellt. Nach der Übernahme der Fabrik durch die "Margaritoff & Schaffer Strumpfwerke" wurden die Opal-Strümpfe zu einem weltweiten Begriff. Mit fast 1000 Mitarbeitern wurde das Werk der größte Arbeitge­ber in der näheren Umgebung. Werksbusse brachten die Auswärtigen an ihre Arbeitsplätze, in Herren­husen ent­stand eine Werkssiedlung. Nach einer Pleite und dem späteren Verkauf der Fabrik zog hier ein Hersteller von Getränkeautomaten ein.
 
Der Holstenhof, ein Erholungsheim der Hamburger Hochbahn AG, und das großzügige Kurheim der LVA Ham­burg am Schwarzen Teich unterstreichen den hohen Stellenwert Reinfelds als Erholungsort.

Anfang der 60er Jahre wurden endlich auch die letzten älteren Häuser an die Kanalisation und die Was­serversorgung angeschlossen. Bis dahin fanden sich in vielen der damals noch zahlreichen Hinterhöfe Brunnen und Plumps­klos. Die "Kanalisation" kam per Lastwagen. Kam das Fahrzeug in Sicht, schallte der Ruf "die Pütschermänner kommen!" durch die Straße und schnell wurden die Fenster geschlossen, denn beim Entleeren der Eimer und Tonnen in den Tankwagen ging schon mal etwas daneben. Bei den Kurgästen, die meist aus Großstädten kamen, rief dieses Schauspiel ungläubiges Staunen hervor.
 
Karpfenfest 1969Zu einem bundesweiten Begriff wurde das Reinfelder Heimatfest, besser bekannt als "Karpfenfest". Das alljährli­che Abfischen hat schon eine lange Tradition; seit 1949 wurde daraus ein großes Fest. Alle zwei Jahre, in Jahren mit un­gerader Jahreszahl, wurde die­ses Fest am zweiten Sonntag im Okto­ber veran­staltet. Von Jahr zu Jahr wurde es immer größer, der kunst­voll gestal­tete historische Festzug wurde sogar im Fernsehen gezeigt und somit weithin bekannt. Schon 1949 säum­ten rund 20000 Schau­lustige die Straßen. Mit Sonderzü­gen kamen Besucher aus Ham­burg, Lübeck und Kiel zu den Festen. Der mächtige Karpfen als Symbol der Stadt, die Mönche, Meeres­gott Nep­tun mit Dreizack und Matthias Claudius mit Fami­lie, alle von Reinfelder Bürgern darge­stellt, gehörten zum Umzug. Darin mitwirken zu dürfen, galt als große Ehre. Anfang der 70er Jahre ging die Zeit der großen Feste vorüber.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Karpfenfest 1986

 

 

 

Nachlassendes Interesse und Sparzwänge führten dazu, dass das große Fest auf einen Herbstmarkt rund um das Abfischen reduziert wurde. Erst zum 800-jährigen Jubiläum 1986 lebte die Tradition noch einmal auf und zog erneut tausende Besucher aus nah und fern an.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

HochhausDie Einwohnerzahl stieg langsam, aber ste­tig weiter an. Die schöne, ruhige Lage und die guten Anbindungen an die Großstädte Lübeck und Hamburg machten die Stadt für Zuzügler attraktiv. Es musste neuer Wohn­raum geschaffen werden und so kam Rein­feld 1974 zu einem neuen „Wahrzeichen“, dem Hochhaus. Auf dem Gelände des ehe­maligen Neuhofes errichtet, ist es weithin sichtbar.
Im Zuge der weiteren Modernisierung der Stadt wird ab 1975 das „Teichquartier“ an der unteren Ahrens­böker Straße nach und nach abgerissen. Damit geht ein Stück Alt-Reinfeld verlo­ren, dafür gibt es eine kleine Parkanlage und die alte Straße kann ausgebaut werden.

 

1996 geht wieder eine Ära zu Ende. Die traditionsreiche Clau­dius-Mühle stellt ihren Betrieb ein, das Getreide wird zukünftig an wenigen zentralen Orten in noch größeren Betrieben gemahlen.


Weitere neue Wohngebiete wurden erschlossen, doch die einst so lebhafte Stadt wurde langsam zur "Schlafstadt". Viele Bürger aus umliegenden Großstädten lernten die ruhige und schöne Wohnlage zu schätzen. Während jedoch früher viele Pendler zur Arbeit nach Reinfeld kamen, so haben nun die meisten Reinfelder ihre Arbeitsplätze außerhalb. Nach gut 800 Jahren ist aus der ehemaligen Klostersiedlung in der Wildnis allen Anzei­chen zum Trotz keine Großstadt geworden, sondern der liebenswerte Kleinstadt­charme blieb bisher erhalten. Das sich die Karpfenstadt dennoch auch der Moderne öffnete, verdeutlicht der Abriss des Kurheims 1994 an der Ahrensböker Straße. An seiner Stelle wurde ein Bildungszentrum gebaut und 1997 zog hier auch die „Fachhochschule für Verwaltung und Dienstleistung“ ein.